Skandal im Mädchenheim

Skandal im Mädchenheim – Michaela Main stellt im Restaurant Dobbendeel in Bad Bederkesa das Buch „Die Burg der Nymphen“ von Katja Groening vor.

Der Wind peitscht Neuschnee über das Eis des Bad Bederkesaer Sees, als die Gäste am Abend des 5. März 2010 Gretels Lesestube im Restaurant Dobbendeel erreichen. Mit ein paar Minuten Verzögerung – ein Gast aus Worpswede hatte sich Wetter bedingt etwas verspätet – eröffnete die bekannte Vorleserin, Frau Michaela Main, ihre Buchvorstellung.

Das niederländische Judenmädchen Lina kommt in einem Keller zur Welt, in den sich ihre Eltern vor den herandrückenden Nazis geflüchtet haben. Sie sind bei einem Geschäftspartner ihres Vaters untergekommen, der sich aber bald als alles andere als guter Freund entpuppt. Lina und ihre zwei älteren Schwestern müssen im Gegenzug für Miete und Verpflegung ihre jungen Körper zur Verfügung stellen. Als die Nazis immer weiter zurückgedrängt werden, wird es dem ehemaligen Freund zu heiß und er lässt die ganze Familie erschießen.

Nur Lina überlebt unbemerkt unter dem toten Körper ihrer Mutter. Als ihr die Nahrung im Keller ausgeht, verlässt sie heimlich das Haus. Draußen ist sie anfangs völlig orientierungslos, da sie weder Häuser noch Straßen noch Autos je zu Gesicht bekommen hat. Sie irrt herum und wird von einem Mann aufgegriffen. Schon am nächsten Tag landet sie in einem Heim für Waisenmädchen in der Nähe von Rotterdam.

Hier herrscht ein strenges Regiment. Die Mädchen müssen aufs Wort parieren und werden nachts von der Heimleiterin an solvente Damen und Herren vermietet. Über viele Jahre muss sie diese Torturen ertragen. Im Teenageralter beschließt sie zu fliehen, als wieder einmal ein Mädchen während der Vergewaltigungen zu Tode gekommen ist.

Nachts schleicht sie sich aus dem Heim. Viele Stunden irrt sie durch die Dunkelheit und wird von einem LKW-Fahrer aufgegriffen. Der erkennt sofort, was passiert ist, da er selbst einmal Heimkind war, und liefert Lina bei einem Ehepaar ab, das mit einem kleinen Küstenfrachter sein Geld verdient. So landet sie schließlich wohlbehalten in England. Eine verpasste Verabredung auf dem Londoner Hauptbahnhof führt schließlich zur Katastrophe. Völlig vereinsamt gibt sie sich dem Alkohol hin und verdient ihren Lebensunterhalt mit Prostitution. Erst eine reiche mitleidige Frau holt sie aus dem Sumpf und zeigt ihr neue Perspektiven auf. Schlussendlich verlässt sie die Schiefe Bahn, kann mithilfe eines Privatermittlers ihre ehemalige Heimleiterin hinter Schloss und Riegel bringen und hilft heute Kinder auf der ganzen Welt.

Als Michaela Main nach über einer Stunde ihren spannenden Vortrag beendet, herrscht noch minutenlanges betroffenes Schweigen. Erst nach und nach kommt eine Diskussion in Gang. Einige Zuhörer sind fassungslos und erschüttert und kleiden ihren Unmut in deutliche Worte.

Auch der Herausgeber dieses Buches, Herr Hans Georg van Herste, der sich seit seiner Jugend für Opfer von sexuellem Kindesmissbrauch einsetzt und mithilfe seiner „Insel-Methode“ schon vielen Tätern das Handwerk gelegt hat, wird in das Gespräch mit einbezogen.

Er sagt:
„Als vor vielen Jahren bekannt wurde, dass ich Bücher dieser Art in mein Programm mit aufnehmen würde, wurde mir mehrfach der Vogel gezeigt. Man erklärte mir, ich würde wichtigtuerischen Autoren aufsitzen, die sich Horrormärchen aus den Fingern saugen würden, um, egal auf welchem Wege, in die Öffentlichkeit gelangen zu können. Ich dagegen hielt viele der Geschichten, die mir angeboten wurden, für absolut wahr. Heute, nach vielen Jahren, stellt sich heraus, dass ich leider Recht behalten habe.

Stand heute sind 18 von 27 Bistümern betroffen. Auch in Internaten ist es zu Übergriffen auf Kinder gekommen. Selbst Karmeliterinnen schreckten nicht davor zurück, kleine Mädchen nackt in mit kaltem Wasser gefüllte Becken in dunklen Kellerräumen zu sperren, sie zu zwingen, ihr Erbrochenes zu essen, und ihre Schutzbefohlenen an solvente Männer von außen zu vermieten.

Auch vor dem Landkreis Cuxhaven macht die Welle der Enthüllungen nicht halt. Ein Mann berichtete, dass er als etwa zehnjähriger Junge in einem Heim für lungenkranke Kinder in Nordholz von einer Krankenschwester dazu gezwungen worden war, Erbrochenes zu essen. Und auch sonst war er ziemlich traktiert worden. Er hätte nach vier Wochen das Heim verlassen dürfen. Einige andere Kinder hätten viele Monate dort ausharren müssen. Er könne sich an einen Jungen aus Köln erinnern, der niemals Besuch empfangen und besonders unter der Krankenschwester zu leiden hatte.“

Van Herste erklärte, dass er der festen Überzeugung sei, die bis jetzt ans Tageslicht gekommen Fälle, wären nur die Spitze des Eisbergs. Er rief alle Opfer dazu auf, sich zu melden. Nur so könne man das ganze Ausmaß beweisen und den noch lebenden Tätern das Handwerk legen. Obendrein forderte er die Politik dazu auf, endlich die Täter schützenden Verjährungsfristen aufzuheben und den Ermittlungsbehörden ausreichende Mittel zur Verfügung zu stellen, um Taten nachhaltig aufzuklären. Zum Schluss wies er darauf hin, dass er es für einen schlechten Witz halte, wenn die Kirchen beauftragt würden, die Täter in den eigenen Reihen dingfest zu machen. Die Vergangenheit hätte gezeigt, dass sich das Interesse der Kirchen an einer wahren Aufklärung in äußerst engen Grenzen bewegen würde. Man würde ja schließlich auch nicht die Mafia damit beauftragen, Mafiamorde aufzuklären.

Erst gegen 21.30 Uhr verließen die Zuschauer betroffen, teilweise erbleicht und wütend das Restaurant. Viele versprachen, in Zukunft noch mehr Augen und Ohren offen zu halten.

Buchtipp

Katja Groening
Die Burg der Nymphen
ISBN: 9783837018134
216 Seiten
18,50 Euro

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