Die Hölle eines kleinen Mädchens – Will evangelische Kirche Opferanträge verhindern?

Das Jahr 1964 hat ihr gesamtes Leben geprägt. Erst 11 Jahre alt, erlebte Erika Mustermann (Name anonymisiert) die Hölle auf Erden. Ihr Lehrer (ein Sonderschulpädagoge für körperbehinderte Schulkinder) versuchte, die kleine Erika fast ein Jahr lang immer und immer wieder zu vergewaltigen. „Das ging nicht, wegen meiner Behinderung“, berichtete Erika schon vor Jahren. Ihre medizinische Diagnose: Spastische Tetraplegie (1). Diese Behinderung beinhaltet Koordinationsstörungen und Verkrampfungen der Muskeln. Und genau wegen diesen Verkrampfungen, mitverursacht auch durch unbeschreibliche Angst, schlugen die Vergewaltigungsversuche fehl. Aber der Lehrer wollte seinen „Kick“. Er mißhandelte sie mit seinen Fingern, drang immer wieder in sie ein, berührte sie an den Brüsten. Erika wußte gar nicht, was da mit ihr geschah. „Ich hatte doch von nichts eine Ahnung!“. Erst Jahre später, sie war jetzt Teenager, erkannte sie: Er hatte versucht, sie zu vergewaltigen und sie auch sonst immer wieder sexuell belästigt. Jetzt wurde ihr auch klar, daß sie gar keine Sprachbehinderung hatte. Diese Behinderung diagnostizierte der Lehrer nämlich und übernahm selbst die Behandlung. In diesen Sitzungen geschahen die Verbrechen. Nach 11 Monaten faßte die kleine Erika allen Mut zusammen: „Ich habe ihm gesagt, ich komme nur noch in Begleitung.“ Von dem Tag an brauchte sie gar nicht mehr zu erscheinen und hatte endlich ihre Ruhe, eine trügerische Ruhe. Immer wieder ist mir Schlimmes passiert, so ging es ihr nachts durch den Kopf.

Erste Verliebtheiten als Teenager, erste körperliche Annäherungen. Spätestens da zog Erika die Bremse. Soviel Nähe konnte sie nicht ertragen. Die weiteren Jahrzehnte sind kurz umrissen: Sie heiratete, bekam zwei Kinder. Doch das richtige Eheglück, die tiefe Zweisamkeit, fanden die Eltern nicht. „Ich kann ihn einfach nicht immer ertragen“, erzählte sie einmal; und auch ihr Mann gab zu verstehen, daß nicht alles so sei, wie er es sich vorstelle. Großes Verständnis und sonst tiefe Liebe hat das Paar seit Jahrzehnten zusammengeschweißt.

Vor wenigen Wochen wurde die „Freie Arbeitsgruppe JHH 2006“, eine Opferinitiative für mißhandelte Kinder in den damaligen Orthopädischen Anstalten Volmarstein bei Hagen, durch den Stiftungsleiter benachrichtigt, daß jetzt auch die Kirchen für Mißbrauchsopfer Leistungen erbringen. Allerdings müsse ein Fragebogen ausgefüllt werden, um Gelder aus diesem kirchlichen Fonds zu erhalten. Erika bekam diesen Fragebogen irgendwo her und war wie versteinert. Noch am Abend, an dem sie die Fragen las, rief sie an und bat um einen dringenden Gesprächstermin. Direkt am nächsten Mittag saß sie vor einem Mitglied der Arbeitsgruppe und war außer sich: „Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen; alles kam wieder hoch“, berichtete Erika stockend. Auch ihr Mann sei entsetzt gewesen über die Aufforderung, das Opfer müsse den Tathergang schildern: „Das darf doch wohl nicht wahr sein!“ Man versuchte, Erika zu beruhigen: „Du mußt solche Fragen nicht beantworten“, versicherte der Vertreter der Arbeitsgruppe, „es genügt die Glaubhaftmachung.“ Immerhin wurde der Lehrer auch wegen zahlreicher anderer Sexualverbrechen zu jahrelanger Haft verurteilt. Jacob zu dem Brief der Anlaufstelle: „Dieses Schreiben läßt nur einen einzigen Schluß zu. Die Landeskirchen wollen mit diesen Hürden Opferanträge verhindern. Dabei kalkulieren sie offensichtlich Retraumatisierungen bewußt ein.“

Erika und ihr Mann stehen finanziell nicht auf der Sonnenseite des Lebens. Sie bekommt eine bescheidene Rente; er verdient nicht viel. Es reicht gerade, sich immer wieder einen älteren Gebrauchtwagen zu leisten. Wenn unerwartete Ausgaben im Haushalt anfallen, stößt das Paar an die Grenzen der Belastung. Darum bot der Vertreter der Arbeitsgruppe Erika an, für sie den Antrag in anonymisierter Form zu stellen. Schließlich komme es ja zunächst nur auf die Beurteilung des Falles an. Frau M. sagte zu, der Antrag ging zur Post.

Allerdings ist die Evangelische Anlaufstelle erbarmungslos. In einem Schreiben vom 11. März 2014 teilt sie mit: „1. Bitte verwenden sie das Originalantragsformular. 2. Eine Antragsbearbeitung kann nur erfolgen, wenn der Antragsteller nicht anonym bleibt. ...“. Außerdem sei die persönliche Unterschrift nötig. Zu den von der Arbeitsgruppe kritisierten Fragen schreibt die Anlaufstelle: „Die Angaben zum Sachverhalt ... sind für die Entscheidung der unabhängigen Kommission erforderlich.“ Hierbei geht es um Angaben zur Person des Täters, zum Tatort, zur Tatzeit, zum Tathergang und den Umgang mit dem Mißbrauchsfall. Und gerade diese Punkte wurden ausführlich geschildert. Helmut Jacob, Fallbearbeiter, ist empört: „Wollen die auch noch Fotos aus dem Intimbereich des Opfers, dort wo die Schweinereien passiert sind?“

Der Fragebogen stößt auch in anderen Blogs auf Kritik. Diplom-Psychologe Dierk Schäfer aus Bad Boll:
„Wollen sie es nicht kapieren oder können sie es nicht?
Es ist für viele ehemalige Heimkinder ein absolutes Unding, bei den Nachfolgern der Täter vorstellig zu werden, um irgendein Almosen zu erhalten. Täternachfolger triggern, d.h. sie lösen heftigste Erinnerungen an erfahrenes Leid aus. Die Bedingungen, die zum Beispiel von der Troika Westfälische Landeskirche und Konsorten gestellt werden, sind für viele ehemalige Heimkinder unannehmbar. Es ist, als müßte eine von Gewalttätern auf dem U-Bahnhof zusammengeschlagene Person einen Antrag an die Täter stellen, mit genauer Schilderung des Tathergangs, um etwas Geld für ihre zerrissene Kleidung zu erhalten.
Im Fall der erwähnten Troika kommt noch das widerwärtige Sparmodell hinzu. Man bleibt mit dem – vielleicht – erhältlichen Sachleistungsangebot weit hinter der Summe zurück, die eine andere Landeskirche zahlt.
So werden Täternachfolger selber zu Tätern und negative Vorbilder praktizierten Christentums. Manchmal wünsche ich mir Feuer und Schwefel über diese Brut – doch nein, das wäre ebenso abscheulich.“ (2)
Und als Diplom-Theologe verweist Schäfer auf Johannes 19,7: „Wir haben ein Gesetz, und nach dem Gesetz soll er sterben.“ Und Schäfer fügt hinzu: „Die drei Kirchen haben ein Formular, und danach muß sich der Mißbrauchte erneut ausziehen.“

Erika Mustermann muß sich nicht mehr ausziehen. Der Fallbearbeiter hat ihr geraten, auf die Almosen zu verzichten. Die Arbeitsgruppe verzichtet ihrerseits auf eine Stellungnahme zum Schreiben der Anlaufstelle.

(1) http://de.wikipedia.org/wiki/Infantile_Zerebralparese
und
(1) http://www.amm-rheintalklinik.de/amm06/DE/Erkrankungen/TetraDipleHemiple...
(2) http://dierkschaefer.wordpress.com/2014/03/18/schieflage/