Von Tauben, Falken und Granaten

Ausgerechnet die Brieftaube, seit urdenklichen Zeiten ein Symbol des Friedens und der Liebe, soll in naher Zukunft zu militärischen Zwecken eingesetzt werden.
Wie aus gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen zu hören ist, plant ein Staat, der in Bezug auf die Anwendung von Massenvernichtungswaffen zur Durchsetzung seiner Machtansprüche noch nie Skrupel gekannt hat, künftig in großem Stil den Einsatz von Brieftauben.

Hinter vorgehaltener Hand wird von zunächst eintausend so genannten "Kleinkalibrigen Marschflugkörpern" gemunkelt. Oder KM, wie es im Militärjargon knapp und bündig heißt.
Normalerweise kehren Brieftauben nach ihren Ausflügen immer zu ihren heimischen Verschlägen zurück. Fieberhaft wird nun in geheimen Forschungslabors daran gearbeitet, dieses Verhalten zu eliminieren, weil aus bestimmten Gründen eine Rückkehr nicht wünschenswert ist und im Falle einer Zündverzögerung fatale Folgen für die eigenen Streitkräfte zu erwarten wären.
Extrahierte und entsprechend aufbereitete Gene japanischer Kamikaze-Piloten, die sich im Zweiten Weltkrieg in selbstmörderischer Absicht auf amerikanische Kriegsschiffe stürzten, sollen übrigens bei der Züchtung dieser neuen Wunderwaffe eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben.
Ein Kampfverband von entsprechend programmierten Vögeln soll nämlich bald in der Lage sein, militärische und zivile Ziele auszuspionieren, anzugreifen und zu vernichten.
Nach dem Motto: „Gemeinsam sind wir stark!“, schließen sich die Tiere kurz vor dem Ziel eng zusammen und nach einem Sturzflug aus geringer Höhe ist alles vorbei. Vorher hat eine sogenannte „fliegende Vorhut“, die eine spezielle Ausbildung erhielt, eine genaue Zielansprache, bzw. Zielerkennung ermöglicht.
Pro KM reichen ja nur wenige Gramm Nitroglyzerin oder einige Tropfen der neuesten Nervengifte völlig aus. Sie befinden sich in speziellen Kapseln am Körper der tierischen Bomber. Beim Aufprall im Zielgebiet verstreuen sie augenblicklich ihren Tod und Verderben bringenden furchbaren Inhalt.
Aus militärischer Sicht liegen die Vorteile der neuen Waffe allerdings klar auf der Hand. Die Betriebskosten pro KM sind äußerst gering. An Verpflegung reichen etwa 35 Gramm Körnerfutter pro Tag völlig aus. Kosten, z.B. für Uniformen und Sold, entfallen natürlich.
Weitere Vorteile, die für ihren Einsatz sprechen: Eine Ortung durch gegnerisches Radar ist nicht möglich. Es gibt auch keine Befehlsverweigerungen. Verluste werden leicht durch Neuzugänge aus Massenzucht ersetzt, da voll taugliche Tiere im Gegensatz zu menschlichen Soldaten schon in wenigen Monaten zum Einsatz gebracht werden können - als selbstreproduzierende Kleinflugkörper im wahrsten Sinn des Wortes!
Im Vergleich zu ihren Waffenbrüdern, den hinreichend bekannten so genannten Großkalibrigen Marschflugkörpern, wie z.B. Raketen, ist daher bei einem Einsatz der KM von phänomenal niedrigen Stück- und Betriebskosten auszugehen.
Doch es gibt keine Angriffswaffe, die nicht in kurzer Zeit durch eine entsprechende Verteidigung neutralisiert wird.
Ausgerechnet der Falke, seit urdenklichen Zeiten ein Symbol für kriegerisches Verhalten und ein von den Tauben schon immer gefürchteter Feind, soll in Zukunft als "Leichter Kleinflugkörper", kurz LK genannt, zum Einsatz kommen. Da bei einem Falken keine komplizierten und aufwendigen Umprogrammierungen nötig sind - er darf einfach so sein, wie er ist - kann schon bald seine Produktion auf eine zur erfolgreichen Abwehr der KM unbedingt erforderliche Höhe gefahren werden. Man spricht fürs erste von fünfhundert LK.
Allerdings sind bei ihnen die zu erwartenden Stück- und Betriebskosten etwas höher zu veranschlagen. Falken fressen mehr und sind auch bei der Aufzucht ihrer Jungen etwas eigensinnig. Im Hinblick auf den Jagderfolg ist dies aber als zweitrangig anzusehen; zumal für einen Falken die Eliminierung von 4 bis 5 Tauben schon in der Luft - weit vor dem Angriffsziel - kein Problem bedeutet. Einschlägige Erfahrungen liegen bereits vor, und wunderschöne Videoaufzeichnungen belegen eindrucksvoll die Leistungskraft und elegante Kampfweise dieser „Ritter der Lüfte“.
Ein kleines Problem am Rande ist allerdings noch nicht befriedigend gelöst. Die sorglose Entsorgung der nicht zum Einsatz gekommenen oder verirrten kleinkalibrigen Marschflugkörper mit ihren todbringenden Kapseln ist noch nicht gewährleistet. Doch in Bezug auf den Schutz der Umwelt wurde schon immer gesündigt und auch Militärs machen sich nur selten über die Folgen ihrer Taten Gedanken.
Für den schon erwähnten Staat wäre das alles natürlich auch ein Verkaufsschlager ersten Ranges, der aber im Hinblick auf die Erhaltung eines „Gleichgewichts des Schreckens“ immer nur im Doppelpack angeboten werden sollte!

Fred Lang


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