Will die Bundesrepublik die Verbrechen an behinderten Klein- und Schulkindern unter den Teppich kehren?
Pressetext verfasst von Helmut Jacob am Di, 2010-05-04 14:13.Misshandlungen und Straftaten in einem Heim für behinderte Kinder 1947-1967:
- Hiebe mit dem Krückstock auf den Kopf, gegen den Rücken, in die Kniekehle
- Schläge mit den Fäusten auf den Kopf, ins Gesicht, auf die Ohren
- kindlichen Körper gegen Heizungsrohre schleudern
- Aufschlagen des Kopfes auf die Pultplatte bzw. Einquetschen zwischen die Flügel der klappbaren Schultafel
- Traktieren der "Eckensteher" mit dem Stock - wenn sie gefallen sind - solange, bis sie wieder aufstanden
- Zwangsfütterung (selbst des Erbrochenen)
Weitere Gewalttätigkeiten bestanden in der Ausübung psychischer Gewalt z. B.:
- Kleinkinder mit dem "Bullemann" oder der Leichenhalle drohen
- Kleinkinder und andere Kinder in permanente Angstzustände versetzen durch Drohungen, unangekündigte Schläge, Schlafentzug, unkontrollierte Gefühlsausbrüche
- Isolationsfolter, stundenlanges, tagelanges, wochenlanges Einsperren in Badezimmer, dunklem Abstellraum oder Wäschekammer - oder im Urlaub in einem leeren Zimmer
- Aufforderung an einzelne Kinder, andere Kinder zu schlagen.
Sexueller Mißbrauch z. B.:
- Zur-Schau-Stellung der sekundären Geschlechtsmerkmale
- Stimulierung und Erregung von Jugendlichen unter Einsatz des Waschlappens und Seife, wobei die direkte Berührung mit den Händen nicht ausgenommen war
- Fortführung dieser Stimulierungen bis zum Erguß
- Aufforderung an junge Diakonische Helferinnen, die Erregung bei Jungen zu beobachteten
- Anschließende Bestrafung dieser Jungen, weil sie angeblich "Schweine" seien.
- Untersuchung der Brüste und des Intimbereiches auf Weiterentwicklung, wobei vordergründig Büstenhalter angepaßt werden sollten
(Auszug aus der Auflistung der Gewalttaten an behinderten Klein- und Schulkindern vom 28. 04. 2009 an Bundestagspräsident Norbert Lammert).
Schon im vergangenen Jahr versuchte die „Freie Arbeitsgruppe JHH 2006“ (FAG JHH 2006), eine Interessenvertretung behinderter Heimopfer, am Runden Tisch Heimkinder der Bundesregierung unter dem Vorsitz von Antje Vollmer gehör zu finden. In einem Schreiben wurden die Gruppenmitglieder, selbst Opfer von Gewalt in einer Behinderteneinrichtung in Wetter bei Hagen, abgewiesen. Zitat: „Mit der Problematik der Behindertenhilfe sprechen Sie ein wichtiges und sensibles Thema an. Der Deutsche Bundestag hat den Runden Tisch „Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“ mit der Aufarbeitung der Jugendhilfepraxis ... beauftragt. Daher wird sich der Runde Tisch ausschließlich mit der damaligen Heimerziehung … befassen können.“
Kürzlich unternahm die FAG JHH 2006 einen erneuten Vorstoß. Diesmal suchte sie Gehör vor dem kürzlich eingerichteten Runden Tisch für sexuelle Opfer unter Vorsitz von Christine Bergmann. In einem gleichlautenden Brief an die Ministerinen Schavan, Leutheusser-Schnarrenberger, Schröder und an Kanzlerin Merkel bat sie darum, „daß zwingend mindestens ein Vertreter für die behinderten Heimopfer zu dem von Ihnen angeordneten Runden Tisch als ständiges Mitglied mit eingeladen wird.“ Gruppensprecher Helmut Jacob: „Auf den Brief erfolgte nicht einmal eine Eingangsbestätigung; dies werten wir als erneute Mißachtung der Heimopfer, wie wir sie seit Beginn unserer Aufarbeitung beobachten.“ Für den Arbeitskreis zeichnet sich inzwischen ab, „daß alle mit dem Thema befaßten kirchlichen und staatlichen Institutionen und Behörden auf die biologische Lösung des Problems setzen.“
Der Wortlaut des Briefes vom 3. Mai 2010 an die Kanzlerin:
Zweiter Runder Tisch Heimopfer unter Frau Christine Bergmann
Unser Schreiben an Sie vom 26. 03. 2010
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin!
Mit großer Erschütterung müssen behinderte ehemalige Heimkinder, die Opfer von sexueller, psychischer und physischer Gewalt wurden, erneut erleben, dass sie an dem entsprechenden Runden Tisch offensichtlich unerwünscht sind.
Gleich 3 Ministerinnen (Schavan, Leutheuser-Schnarrenberger, Schröder) diskutieren an dem von Ihnen empfohlenen Runden Tisch mit allen möglichen Menschen, sogar mit einem Vertreter der Gewerkschaft. Wo sind die Opfer? Ganz konkret: Wo sind die behinderten Opfer? Wir haben uns bei den 3 Ministerinnen vorgestellt und darum gebeten, die behinderten Opfer von sexueller Gewalt dort zu vertreten, ihnen eine Stimme gegeben. Die 3 Ministerien hielten es nicht einmal für nötig, den Eingang unseres Telefaxes zu bestätigen. Auch Ihr Kanzleramt hat auf unser Schreiben vom 26.03.2010 nicht reagiert.
Kann es sein, dass es unerwünscht ist, dass die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft Gehör finden? Bereits vom Runden Tisch 1 unter Vorsitz von Frau Dr. Vollmer wurden wir rüde abgewiesen. Man behandele lediglich das Thema Erziehungshilfe und darum käme unsere Teilnahme nicht in Frage. Als ob in Schulen nicht auch erzogen wird, als ob gerade vor 40 bis 60 Jahren in Schulen nicht erzogen wurde und als ob in einem Heim für behinderte Kinder, die beschult wurden, keine Erziehung stattfand. Man kann zu dieser Begründung von Frau Vollmer nur den Kopf schütteln. Und in der Tat sind anerkannte Erziehungswissenschaftler erschüttert darüber, dass die Gewalt an behinderten Kleinkindern und Schulkindern nicht an diesem Runden Tisch thematisiert wird.
Will die Bundesrepublik die Verbrechen an behinderten Klein- und Schulkindern unter den Teppich kehren?
Diese Frage drängt sich immer deutlicher auf. Nahrung findet unsere entsprechende Vermutung auch darin, dass das bevölkerungsreichste Bundesland, nämlich Nordrhein-Westfalen, überhaupt keinen Runden Tisch einrichtet, und dass staatliche und Landesbehörden, so zum Beispiel die Landschaftsverbände, unsere Schreiben ignorieren, in denen es um Hilfen für die Opfer geht. Verkommt Deutschland wirklich zu einem behindertenfeindlichen Land? Behindertenfeindlich darum, weil es nicht in der Lage ist, den behinderten Opfern zuzuhören. Es waren staatliche Stellen, die in ihrer Aufsichtspflicht völlig versagt haben. Es waren staatliche Stellen, die den Kirchen leichtgläubig zugetraut haben, unbeobachtet Kinderheime zu führen. So musste es passieren, dass beispielsweise in Volmarstein alle Facetten der Gewalt an hilflosen Kindern praktiziert wurden. Sie wurden psychisch und physisch gequält und gefoltert. Einige jeden Tag, 24 Stunden. Andere wurden zu Opfern sexueller Gewalt.
Warum wir an dem zweiten Runden Tisch mitsprechen wollen? Unter unseren ehemaligen Mitschülern und Mitschülerinnen gab es welche, an denen sich sogar ein Schulrektor vergriffen hat. Nicht nur, dass er sich an ihnen in verschiedensten Weisen, die man nicht öffentlich beschreiben kann, verging. Er lud darüber hinaus wenigstens einen seiner Bekannten ein. Dieser vergewaltigte behinderte Mädchen und der Schulrektor schaute dabei zu.
Des Weiteren haben sich Schwestern an behinderten Schulmädchen und Schuljungen vergriffen. Das Thema ist längst nicht aufgearbeitet, obwohl schon einiges dazu in dem Buch der Historiker Schmuhl/Winkler „Gewalt in der Körperbehindertenhilfe“ zu lesen ist. Zu groß ist die Scham der Opfer, über diese Vergewaltigungen, die teilweise ihre sexuelle Entfaltung verhindert haben, zu sprechen. Aber was ist anders an diesen, Ihnen in kurzen Sätzen vorgetragenen Vorfällen, als an denen in den Eliteschulen, für die eiligst ein runder Tisch zusammengetrommelt wurde? Sicher, der Rechtsnachfolger der damaligen Orthopädischen Anstalten Volmarstein bekennt sich zu den Verbrechen und leistet punktuell Wiedergutmachung. Aber das kann doch wohl nicht alles gewesen sein? Weshalb dürfen behinderte Heimopfer kein Gehör finden? Will Deutschland die Gewalt an Kleinkindern und Schulkindern darum nicht aufarbeiten, weil eine Protestlawine zu befürchten ist? Dieser Eindruck drängt sich schon lange auf.
Wenn die bisherige Verweigerung der Teilnahme am Runden Tisch auch Ihre Zustimmung findet, dann wollen wir misshandelten ehemaligen Kinder wissen, wie Sie unsere nicht weniger gravierenden Misshandlungen aufarbeiten lassen und für eine angemessene Wiedergutmachung, Entschädigung und aktuelle Hilfe sorgen wollen.
Einige Kinder kamen als Kleinkinder, mit 2,3 Jahren ins Heim. Die Verbrechen an ihnen - beispielsweise das Festbinden auf Stühlen um einen Tisch herum, während der 2-bis 3-stündigen Mittagspause und die Schläge, wenn diese kleinen Wesen doch etwas brabbeln wollten - ist auch nicht im Gespräch. Auch diese Opfer erhalten weder Entschuldigung noch Wiedergutmachung. Wir betreuen einige, die an den Folgeschäden leiden und keinen Platz in der Gesellschaft gefunden haben.
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, wenn Sie Kanzlerin aller Bürger sein wollen, sprechen Sie endlich ein Machtwort und veranlassen Sie, dass Vertreter der behinderten Heimopfer an beiden Runden Tischen einberufen werden. Und zwar nicht Vertreter, die über behinderte Heimopfer schwadronieren, sondern Opfer selbst. Wir haben uns dafür angeboten. Wir haben ein Recht auf Gehör, weil wir bisher die einzige Opfergruppe sind, welche die Belange behinderter Heimopfer vertreten.
In der Hoffnung, nun endlich schnellstens eine positive Mitteilung von Ihnen zu erhalten, verbleiben wir
mit freundlichen Grüßen
(Helmut Jacob)
Sprecher
Links:
Brief im Original: http://www.gewalt-im-jhh.de/Runder_Tisch_-_Informationen_u/Merkel_wg_2te...
Absage 1. Runder Tisch: http://www.gewalt-im-jhh.de/Runder_Tisch_-_Informationen_u/runder_tisch_...
Brief zu 2. Runder Tisch an Bundeskanzlerin: http://www.gewalt-im-jhh.de/Runder_Tisch_-_Informationen_u/Kanzlerin_wg_...