Vaterlosigkeit als generationelle Erfahrung im 20. Jahrhundert - Deutschland und Polen

1952 wandte sich ein Leser in folgender Angelegenheit an die populäre Ratgeberrubrik »Fragen Sie Frau Irene« der westdeutschen Programmzeitschrift »Hör zu«: Er sei mit einer Kriegerwitwe, die eine zwölfjährige Tochter habe, verlobt. Ihre Wohnung sei mit Bildern des verstorbenen Ehemannes vollgestellt, und die Frau weigere sich, die Bilder abzunehmen. »Frau Irene« antwortete in »Hör zu«, dass der Gefallene selbstverständlich einen Platz in der Wohnung haben müsse, mehr aber nicht: »Wenn sie darauf beharrt, alle Bilder hängen zu lassen, nun, dann würde ich die Unbelehrbare in der Gedächtnis-Wohnung allein wohnen lassen.«

Vati blieb im Krieg
Vaterlosigkeit als generationelle Erfahrung im 20. Jahrhundert - Deutschland und Polen
Lu Seegers
Wallstein Verlag

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Einige Ausgaben später wurden wütende Leserbriefe abgedruckt, die eindrucksvoll demonstrieren, dass die Erinnerung an den Toten keineswegs nur eine Sache zwischen den künftigen Eheleuten war. So schrieb A. B. aus Köln: »Frau Irene hat diesmal gewaltig daneben gehauen. Wie kann man sich gegen einen Mann, der sein Leben dem Vaterland, also auch für den Frager und Frau Irene opferte, so undankbar verhalten, dass man alles, was an ihn erinnert, vernichten muss?«
Es ging um die Frage, wie viel Platz die gefallenen Soldaten in der öffentlichen und privaten Erinnerung einnehmen sollten. Bezeichnenderweise waren die Belange und Wünsche der zwölfjährigen Tochter kein Thema. Die Antwort der Ratgeberrubrik entsprach damit der in der Bundesrepublik wie in der DDR verbreiteten Haltung, nach der die kriegsbedingte reale Vaterlosigkeit als allgemeines Schicksal angesehen wurde, das in der Öffentlichkeit kaum Beachtung fand. Dementsprechend stießen die Gefühle und Befindlichkeiten vaterloser Kinder auf wenig Interesse.


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Erhard Coch ist Autor verschiedener Bücher und Essays.